LinkedIn: Wo Karriere-Netzwerken auf Gruppentherapie, Politik und Tinder trifft
In einer Welt, in der professionelle Grenzen so verschwommen sind wie die Webcam-Qualität in Ihrem durchschnittlichen Zoom-Meeting, ragt LinkedIn als leuchtendes Beispiel dafür hervor, was passiert, wenn ein Business-Netzwerk eine existenzielle Identitätskrise erleidet.
## Willkommen im digitalen Tollhaus
Erinnern Sie sich noch an die gute alte Zeit, als LinkedIn ein Ort war, um berufliche Kontakte zu knüpfen, Stellenangebote zu finden und vielleicht einen dezenten Humblebrag über Ihre letzte Beförderung zu posten? Diese Zeiten sind vorbei, meine Freunde. Heute ist LinkedIn eine schwindelerregende Mixtur aus politischem Schlachtfeld, persönlicher Therapiesitzung, motivationalem TED-Talk und – wie ich kürzlich zu meinem grenzenlosen Entsetzen feststellen durfte – offenbar auch OnlyFans-Light.
## Die große Politisierung: Weil Ihr Arbeitgeber unbedingt wissen sollte, wen Sie wählen
Es begann harmlos. Ein paar Kommentare hier, ein geteilter Artikel dort. Doch wie ein Virus, der seine Inkubationszeit hinter sich hat, brach die politische Polarisierung plötzlich mit voller Wucht aus. Heute kann man nicht einmal mehr ein "Herzlichen Glückwunsch zum 10-jährigen Firmenjubiläum" posten, ohne dass darunter eine erbitterte Debatte über Steuerpolitik, Klimawandel oder die neuesten Äußerungen irgendeines Politikers entbrennt.
LinkedIn hat sich von einem Ort, an dem wir unsere beruflichen Erfolge teilen, zu einem Ort entwickelt, an dem wir unsere politischen Überzeugungen so zur Schau stellen, als wären sie unser wertvollstes Karriere-Asset. "Ich bin Senior Marketing Manager bei XYZ und finde übrigens, dass die Regierung alles falsch macht!" – Fantastisch, Kevin, aber ich wollte eigentlich nur wissen, ob du Erfahrung mit SEO-Optimierung hast.
## Die Selbsthilfegruppen-Invasion: "Ich habe versagt und das ist meine Erfolgsgeschichte"
Dann kam die Welle der Selbsthilfe-Gurus. Plötzlich war jeder zweite Post eine herzzerreißende Erzählung darüber, wie jemand seinen Job verlor, drei Tage am Boden zerstört war, dann einen Spaziergang machte, eine Erleuchtung hatte und nun als "Chief Mindfulness Officer" arbeitet und nebenbei ein siebenstelliges Einkommen mit einem Kurs über "Resilienz im digitalen Zeitalter" erzielt.
Diese Beiträge folgen immer demselben Muster:
1. Dramatische Einleitung: "Letzte Woche wurde ich gefeuert."
2. Künstliche Pause mit mehreren Zeilen Abstand.
3. Überraschende Wendung: "Und das war das Beste, was mir je passieren konnte."
4. Drei generische Lebensweisheiten, die so tiefgründig sind wie eine Pfütze in der Sahara.
5. Ein Aufruf zum Teilen, damit auch andere von dieser "Weisheit" profitieren können.
Und natürlich darf der obligatorische Hashtag #blessed nicht fehlen.
## Der OnlyFans-Moment: Wenn LinkedIn zur Dating-App wird
Und dann... dann erreichte der Wahnsinn einen neuen Höhepunkt. Als ich dachte, ich hätte alles gesehen, erhielt ich eine Nachricht, die mich in eine Spirale des Fremdschämens stürzte, aus der ich bis heute nicht vollständig entkommen bin. Ein "Networker" – nennen wir ihn mal so – schrieb mir, um... seine sexuellen Vorlieben zu teilen. Auf LinkedIn. Dem BUSINESS-Netzwerk.
Der Fremdscham-Moment war so intensiv, dass ich kurzzeitig befürchtete, mein Gesicht könnte sich permanent in einer Grimasse des Entsetzens verfestigen. Hat dieser Herr tatsächlich gedacht, dass LinkedIn das passende Forum für solche Informationen ist? War sein nächster Karriereschritt etwa "Professional Boundaries Disruptor"?
Als ich ihm höflich mitteilte, dass er möglicherweise die Plattform verwechselt habe, erklärte er mir allen Ernstes, dass er es für "authentisch" und "zeitgemäß" halte, seine "ganze Persönlichkeit" auch im beruflichen Kontext zu zeigen. Weil, wissen Sie, Authentizität und so.
Lieber Herr X, falls Sie das lesen: Nein. Einfach nein. Es gibt einen Unterschied zwischen authentischer Professionalität und dem völligen Fehlen jeglichen Situationsbewusstseins. LinkedIn ist nicht der Ort, um Ihre intimsten Vorlieben zu teilen, genauso wenig wie eine Vorstandssitzung der richtige Moment ist, um Ihre Sammlung exotischer Unterwäsche vorzustellen.
## Wann ging alles schief?
Wie konnte es nur so weit kommen? Wann haben die Nutzer von LinkedIn diesen fatalen Abbiegefehler gemacht? Ich vermute, es war ein schleichender Prozess. Die Grenzen zwischen Beruflichem und Privatem verschwimmen seit Jahren. Home-Office, Always-On-Kultur und die allgegenwärtige Aufforderung, "authentisch" zu sein, haben dazu beigetragen.
Aber irgendwo zwischen "Ich freue mich, meinen neuen Job anzukündigen" und "Hier ist meine ausführliche Meinung zum aktuellen geopolitischen Konflikt plus meine sexuellen Präferenzen" haben wir einen falschen Abzweig genommen. Und nun befinden wir uns in einem seltsamen digitalen Niemandsland, in dem LinkedIn gleichzeitig versucht, Facebook, Twitter, TikTok, eine Therapiesitzung, ein politisches Forum und offenbar auch Dating-Apps zu sein.
## Wird es besser werden?
Werden wir jemals zu einem LinkedIn zurückkehren, das sich auf berufliche Vernetzung konzentriert? Ich bezweifle es. Der Geist ist aus der Flasche, und er trägt einen schlecht sitzenden Anzug und postet Motivationssprüche über Durchhaltevermögen, während er politische Kommentare abgibt und nebenbei versucht, ein Date zu bekommen.
Die einzige Hoffnung besteht darin, dass wir kollektiv eine Art digitale Erschöpfung erreichen und zur Besinnung kommen. Vielleicht wird der nächste große Trend auf LinkedIn "Professionelle Zurückhaltung" sein. Stellen Sie sich vor: Beiträge, die tatsächlich mit Ihrer beruflichen Expertise zu tun haben. Nachrichten, die sich auf geschäftliche Angelegenheiten beschränken. Eine klare Trennung zwischen dem, was auf LinkedIn gehört, und dem, was für Ihre Instagram-Story, Ihren privaten Facebook-Account oder – im Falle unseres verwirrten Freundes – für absolut keine soziale Plattform geeignet ist.
Bis dahin bleibt mir nur, meinen Feed mit der Mischung aus Faszination und Horror zu betrachten, die man empfindet, wenn man bei einem Verkehrsunfall nicht wegsehen kann. Und natürlich werde ich weiterhin höflich, aber bestimmt darauf hinweisen, dass ich kein Interesse daran habe, die intimsten Details des Lebens meiner beruflichen Kontakte zu erfahren.
LinkedIn, du warst einst so voller Potenzial. Was ist nur aus dir geworden?
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*PS: Falls Sie sich fragen, ob dieser Blog auf LinkedIn geteilt werden sollte – warum nicht? Zwischen den politischen Manifesten, den dreiseitigen Selbsthilfe-Epen und den unangebrachten persönlichen Enthüllungen wird er kaum auffallen.*
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